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Noch laufen die Ferien, die Hitzewelle neigt sich aber wieder ihrem Ende zu. Es ist nicht ganz klar, ob nochmals Freibadwetter sein wird. Freibäder waren diesen Sommer großes Thema, sogar die Bundespolitik beschäftigte sich mit der Sicherheit in Freibädern. Es entstand eine aufgeladene Diskussion, die zeigte, wie viele Emotionen mit unseren Aufenthalten im Freibad verbunden sind. Erinnerungen aus der eigenen Jugend werden wach und romantisieren diesen Ort. Die Debatten nahmen verschiedene Kultursendungen zum Ausgangspunkt, um sich mit Büchern zu beschäftigen, die im Freibad spielen. ZDF Aspekte machte dazu eine ganze Sendung und präsentierte darin Caroline Wahl mit ihrem Debütroman 22 Bahnen. Mich hat das Thema interessiert und somit wurde das Buch gekauft. Allerdings musste ich feststellen, dass dieser Roman keine leichte Sommerlektüre bietet.
Keine Familie mit gemeinsamen Abendessen
Tilda und ihre Schwester Ida lieben das Freibad, denn es ist ihr wichtigster Rückzugsort. Die beiden Geschwister leben allein mit ihrer alkoholkranken Mutter. Caroline Wahl gelingt es in ihrem Debütroman, diese Situation in einfache Worte zu packen. Die Familie lässt sich am besten damit beschreiben, dass es eben kein gemeinsames Abendbrot gibt. Überhaupt ist an dieser Mahlzeit bestens abzulesen, in welchem Zustand sich die Mutter befindet. Sofern der Tisch gedeckt ist, geht es ihr besser und gleichzeitig ist es für die beiden Töchter das Signal, dass auf die beiden schon bald der nächste Sturm niedergehen wird. Die Mutter ist nicht in der Lage für die Familie zu sorgen und Tilda übernimmt die gesamte Verantwortung. Schon früh hat diese gewusst, zu Hause mehr leisten zu müssen. Lesen war ihr erster Anker, bis das Freibad eine wichtige Rolle einnahm.
„Wenn ich allein in meinem Zimmer war, habe ich immer wieder versucht, mich in eine andere Welt hineinzulesen, es hat aber nie funktioniert.“
Wahl, Caroline: 22 Bahnen, 2023, Dumont Verlag, S.105.
Zu Beginn erscheint das Freibad als Flucht- und Sehnsuchtsort. Tilda sucht im Schwimmen der Bahnen zudem Entspannung, kann vielleicht auch aufgestaute Wut abbauen. Ihre Schwester Ida begleitet sie ins Bad nur bei Regen. Sehnsuchtsort ist das Bad, da Tilda in diesem auf Viktor trifft. Der Text changiert gut zwischen freundschaftlicher und liebevoller Annäherung an den jungen Mann. Tilda möchte niemanden an sich heranlassen und doch spürt sie gleichzeitig eine Anziehungskraft. Als Tilda eine schwere Grippe erwischt, benötigt Ida Hilfe und wendet sich eben an jenen geheimnisvollen Viktor. Der Roman beschreibt eine Annäherung zwischen Tilda und Viktor und schildert, wie sich Ida dem Erwachsenwerden nähert. Das Buch schafft es, diese drei Figuren in liebevolle Nähe zu bringen und umgeht dabei jeglichen Kitschverdacht. Immer wieder durchbricht das Zusammenleben mit der Mutter die aufkommende Hoffnung. Caroline Wahl wählt für diese herzerfassende Geschichte eine minimalistische Sprache, die aber wegen ihres pointierten Gebrauchs die Leserschaft umso stärker trifft. Mich packt dieses Buch mit seiner Wärme, die in all der geschilderten Tragik des Lebens steckt.
„Eigentlich sollte man für Nächte, wie diese leben, wenn alles so still ist und schläft. Wenn alle ihren Mund halten.“
Wahl, Caroline: 22 Bahnen, 2023, Dumont Verlag, S.130.
Wahl lässt ihre Figuren deutlich sprechen. Es gibt kein Verstecken von Wahrheiten, schwierige Beziehungslagen werden nicht verschwiegen. Die beiden Schwestern haben einen behutsamen und von Liebe geprägten Umgang. Die Distanz zwischen Tilda und Viktor bleibt immer verständlich. Spannend ist, dass diese beiden ebenfalls ein Geheimnis der Vergangenheit verbindet. Tilda weiß nicht damit umzugehen und daraus zieht der Text Spannung. Weiterhin bringt er eine Herausforderung für die Geschwister, denn Tilda soll die Möglichkeit erhalten, eine Doktorandenstelle anzunehmen. Hierfür müsste sie Ida allerdings allein lassen. Es stellt sich die Frage, ob es der jüngeren Schwester gelingen wird, schnell genug erwachsen zu werden. Ich habe noch keinen Roman gelesen, der auf solch eindringliche Art und Weise die Perspektive der Kinder eines alkoholkranken Elternteils verarbeitet. Die beiden werden dazu gezwungen, schnell erwachsen zu werden und müssen Verantwortung übernehmen. Gleichzeitig ist spürbar, dass sie bei all den Einschränkungen nie die Liebe zu ihrer Mutter verlieren.
Fazit
Mich hat dieses Buch emotional packen können und daraus eine ziemliche Kraft entwickelt. Caroline Wahl findet eine poetische Sprache, die ohne große Schnörkel auskommt, um eine eindringliche Familiensituation zu schildern. Der Roman ist keine leichte Sommerlektüre, aber auch kein zu stark belastendes Buch, da er die Tragik mit viel Herzenswärme kombiniert. Ich bin den beiden Geschwistern lesend gerne gefolgt und habe ganz neue Einblicke in ein Familienbild erhalten. Dieses Debüt hat mich beeindruckt.
Werbung aus Liebe zum Buch
Wertung: 🐧🐧🐧🐧1/2🐧
Caroline Wahl: 22 Bahnen
ISBN: 978-3-8321-6803-2
https://www.dumont-buchverlag.de/buch/wahl-22-bahnen-9783832168032/