Es war so simpel, und doch hatte ich Mühe zu begreifen was gerade passiert war. Der Junge hatte einfach die Richtung gewechselt. Er ging voran, ich ging hinterher.“
Bjerg, Bov: Serpentinen, S.208 Claassen 2020.
In diesem Zitat zeigt sich für mich der oftmals auftretende Umgang mit der Krankheit Depression. In Unkenntnis dieser psychischen Belastung glaubt so mancher, dass es mit einem einfachen Richtungswechsel getan sei. Bov Bjerg ist einigen sicherlich als Autor des großartigen Romans „Auerhaus“ ein Begriff. Schon in diesem spielten Gedanken an Suizid eine Rolle. In seinem neuen Roman „Serpentinen“ greift er dies erneut auf, wählt aber dieses Mal einen deutlich älteren Protagonisten. Weg von der Welt der Heranwachsenden steht dieses Mal ein Vater im Fokus, der über die eigene Vaterrolle und seine Depressionen nachdenkt. Der Roman wählt für diese Auseinandersetzung den Weg der titelgebenden Serpentinen, die zwischen Auffahrt und Abfahrt wechseln.
Um was geht es?
Der Ich-Erzähler unternimmt mit seinem Sohn eine Reise in die eigene Vergangenheit. Mit dem Auto reisen sie einem Roadtrip gleich in die kindliche Heimat der Schwäbischen Alb. Immer wieder fahren die Beiden dabei die Serpentinen rauf und runter, welche dem Buch auch ihren Titel geben. Der Erzähler reflektiert während dieser Fahrten die eigene Herkunft, seine Flucht aus der ländlichen Heimat in die Stadt und dabei auch den Weg zum ausgebildeten Soziologen. Belastend liegt auf ihm die Familiengeschichte, die geprägt von männlichen Suiziden ist. Die Reise macht die Angst greifbar, dass dem Erzähler das gleiche Schicksal bevorsteht und er deshalb seinen eigenen Sohn zurücklässt. Der Roman kreist um diese Angst und die damit in Verbindung stehende Depression und lässt bedenkliche Situationen entstehen.
Mein Eindruck vom Buch
Der Roman macht einen harten Einstieg, in dem gleich zu Beginn die Suizidgeschichte der männlichen Familienmitglieder deutlich wird. In einer Aufzählung wird deutlich, dass der Erzähler der Nächste in dieser Reihenfolge sein könnte. Diese Vorbelastung wurde innerhalb der Familie nie angemessen kommuniziert. Diese Leerstelle versucht der Roman zum einen durch die Selbstreflektion des Erzählers, zum anderen durch eine Spurensuche in der eigenen Kindheit zum füllen. Der Erzähler ist ausgebildeter Soziologe und beschäftigt sich auch mit dieser persönlichen Entwicklung. Der soziale Aufstieg aus der ländlichen konservativen Region hinaus, hat dem Erzähler Fremdheitserfahrungen eingebracht. Dies drückt sich für mich in einer Szene deutlich aus, als er sich mit einem Landwirt über das Verraten der eigenen Herkunft unterhält.
Auch aus diesem Grund findet der Erzähler immer weniger Halt und hadert dazu noch mit der Belastung der eigenen Vaterrolle. Denn allein die Rolle als Vater und das damit verbundene Glück, ist nicht in der Lage die aufkommenden Depressionen zu mindern. Er hadert damit der Vaterrolle gerecht zu werden und hat die Angst zu verarbeiten, das er der männlichen Suizidgeschichte der Familie folgt und den Sohn alleine zurücklassen könnte. Diese Angst gepaart mit der Liebe zum Sohn führt zu beklemmenden Situationen, in denen der Vater über den doppelten Suizid nachdenkt. Als Leser*In sind es diese Momente, die einen emotional packen.
Serpentinengleich wechselt der Roman zwischen diesen Momenten und jenen in denen der Vater einen sympathisch-väterlichen Ton gegenüber seinem Sohn anschlägt. Dies unterscheidet den Erzähler auch von dessen eigenen Vater, der als gewaltbereite Figur in Erinnerung bleibt.
Der Sohn übernimmt den positiven Part im Roman. Mit kindlicher Freude begleitet er den Ausflug und auch in der eingangs zitierten Situation zeigt sich dies. Es ist der Sohn, der hoffnungsvolle einfache Antworten anzubieten versucht. Es ist gerade dieses Wechselspiel, welches den Roman so schön macht. Bov Bjerg ist die Gabe gegeben einen melancholischen Tonfall zu pflegen, dem man gerne lesend folgt.
Undifferenziert empfinde ich an einigen Stellen die Auseinandersetzung mit der ländlich konservativen Heimat. An vielen wirken die Nazi-Verurteilungen zu pauschal und verhindern aus meiner Sicht auch die gezielte Auseinandersetzung mit den familiären Wurzeln. Trotzdem hat mich der Roman gepackt und dies liegt an der Sprache. Selten gelingt es Autoren Tragik, Hoffnung und Humor sprachlich auf diesem Niveau zu transportieren. Nach Abschluss der Lektüre schweift der Blick ins Bücherregal und ich verspüre Lust „Auerhaus“ erneut zu lesen.
Werbung aus Liebe zum Buch
Wertung: 🐧🐧🐧1/2🐧
Bov Bjerg:
Serpentinen
Claassen
ISBN: 9783546100038
Preis: 22,00€
https://www.ullstein-buchverlage.de/nc/buch/details/serpentinen-9783546100038.html