Ein Blick in die Gesellschaft durch ein Internat – Tonio Schachinger: Echtzeitalter

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In dieser Woche beginnt die Frankfurter Buchmesse und es steht damit auch die Vergabe des Deutschen Buchpreises an. Seit Jahren lese ich viele Bücher, welche für diesen Preis nominiert sind. Erstmals möchte ich in diesem Jahr alle 20 Titel der Longlist lesen und auf diesem Blog besprechen. Unabhängig davon, welcher Titel schlussendlich durch eine Jury zum besten Roman des Jahres erklärt wird, finden sich auf dieser Liste Bücher, denen ich Aufmerksamkeit schenken möchte.

Da es nun schon eine Shortlist gibt, möchte ich zunächst mit den Titeln dieser Liste beginnen. Einer der Nominierten ist Tonio Schachinger mit dem Roman „Echtzeitalter“, erschienen im Rowohlt Verlag. Diesen Roman habe ich schon seit der Messe in Leipzig auf meiner Leseliste. Dort war Österreich Gastland gewesen und Tonio Schachinger ist mir seit seinem Debütroman, der ebenfalls auf der Shortlist stand, ein Begriff. 

„Ein typischer Absolvent dieser Anstalt ist jemand, der den vorhandenen Besitz seiner Familie weiter vergrößert, der als Arzt, Anwalt oder Unternehmer die Praxis, Kanzlei oder Firma seines Vaters übernimmt, dem es für seine gesamte Lebenszeit als Rebellion genügen wird, mit 17 seinen über das Hemd gelegten Pullover schräg über eine Schulter zu binden statt symmetrisch über beide.“

Schachinger, Tonio: Echtzeitalter, 2023, Rowohlt Verlag, S.10.

Jetzt legt er einen Internatsroman vor. Wir begleiten Till, einen Schüler des Elite-Internats Marianum, durch dessen Schulzeit. Sein Vater ist früh gestorben und er muss sich mit einer alleinerziehenden Mutter auseinandersetzen, die im Buch nur wenig herzliche Züge erhält. Sie wirkt allerdings nicht besonders streng, sondern scheint neben ihrem Sohn her zu leben. Der Schulalltag im elitären System ist nicht für alle Schüler:Innen nur undankbar, doch Till hat den strengsten Lehrer. Der Dolinar ist ein unnachgiebiger Deutschlehrer, der seinen Konservatismus nicht nur über Aussagen des Unterrichts, sondern ebenfalls in seinen Erziehungsmethoden ausdrückt. Angst ist somit ein Teil des Schulalltags. Till sucht seinen Ausgleich in der Welt der Computerspiele und ist äußerst erfolgreich im Spiel „Age of Empires“. Die beiden Welten scheinen nicht miteinander vereinbar zu sein, ermöglichen Till allerdings in der Kombination seine eigene Coming-of-Age-Geschichte inklusive erster Liebe.

Tonio Schachinger präsentiert hier eine starke Erzählung, da er nicht nur einen Schulalltag präsentiert, sondern ihm gleichzeitig eine wunderbare Gesellschaftsbewertung gelingt. Für mich beginnt die Stärke schon damit, dass der konservativen Schulwelt, die aus vergangenen Zeiten wirkt, einer Welt gegenübergestellt wird, die für viele Erwachsene rätselhaft bleibt. Die Gamingszene stößt mit dem entstandenen Beruf des Gamers immer noch auf viel Unverständnis. Selbst wenn die Schulwelt wie aus vergangenen Zeiten wirkt, signalisiert der Titel des Romans zugleich ihre Gegenwärtigkeit. Das Internat ist klar als Verweis auf das real existierende Theresianum in Wien zu lesen. Auf diesem Internat war der Autor selbst, auch wenn der Roman bewusst keine Autofiktion ist.

Till ist ein Schüler, der nicht auffallen möchte, die Interaktionen mit Klassenkameraden bleiben distanziert. Aus dieser Distanz heraus zeigt sich aber auch die Härte, welche sich in diesem elitären System untereinander herausbildet. Auch gegenüber den Lehrkräften gelingt deshalb keine entgegenstehende Einheit. Kurzfristige Allianzen dienen nur nötigen Problemlösungen. Die Schilderung der dominanten Lehrkraft ist gekennzeichnet durch hohe Reflektoren, die verdeutlicht, woher dieser seine Autorität bezieht und zugleich durchzieht die Schilderung eine Ironie, welche den Dolinar als einen Mann schildert, der die Zukunft der österreichischen Gesellschaft in der Erinnerung an Vergangenes sieht. Der Roman ist deshalb mehr als nur eine Coming-of-Age-Geschichte, sondern zugleich eine Darstellung konservativer österreichischer Gesellschaft, in der die Erfolge von FPÖ und Sebastian Kurz als logisches Ergebnis der Zurschaustellung konservativer Elite sind. Till kann dies nur schwer fassen und trotzdem gelingt es Schachinger stilistisch diese Reflexionen zu liefern und gleichzeitig die Welt mit den Augen eines Heranwachsenden zu schildern.

„Wenn man lange in Wien lebt, bekommt man irgendwann das Gefühl, jeden Menschen zu kennen. Man ist hängen geblieben. Man hat sich von der Phantasie, Wien sei eine Weltstadt, in das provinziellste aller möglichen Leben hineinlocken lassen. Jeden Menschen, den man kennenlernt, kannte man schon, jedes Leben, das mit diesem Menschen möglich erscheint, erschien schon vorher möglich.“

Schachinger, Tonio: Echtzeitalter, 2023, Rowohlt Verlag, S.90.

Der Romantitel ist für mich ebenfalls ein Highlight, da er für mich verschiedene Elemente des Romans anspielt. Zum einen gibt er der geschilderten Thematik eine Gegenwärtigkeit und steht damit konkret gegen das Bewahren alter Strukturen und auch entgegen einem Computerspiel, welches vergangene Kulturen als Spielelement hat. Gleichzeitig kann man das Wort in „Echtzeit“ und „Alter“ trennen und daraus eine Frage in Jugendsprache ableiten „Echtzeit, Alter?“ und damit die Verwirrung über die Erlebnisse von Till ausdrücken. Solche Gedanken lässt der Roman in mir immer wieder aufkommen. Obwohl ohne große Künstlichkeit in der Sprache auskommend, lande ich immer wieder in der Auseinandersetzung mit dem sprachlichen Material. Dieser Roman ist in sich gut komponiert, nimmt viele Elemente klassischer Internatstexte auf und versetzt sie in die Moderne. Heraus kommt dabei auch ein Erklärungsansatz für Entwicklungslinien der Politik in Österreich, sowie ein Porträt bestimmter Elemente Wiener Stadtkultur.

Für Till kommt zudem noch eine Liebesgeschichte hinzu, deren Funktion nochmals eine weitere Drehung der Erfahrungswelt ist. Die junge Dame stellt nochmals auf andere Art und Weise Hierarchien infrage und treibt damit die Charakterentwicklung von Till an. Auch dieses Storyelement ist gut gewählt und macht den gesamten Roman zu einer runden Sache.

Fazit

Tonio Schachinger hat einen tollen Roman geschrieben, der viele Elemente eines Lebens von Heranwachsenden schildert und die Erwartungen junger Menschen gezielt mit jenen von konservativen Bildungseinrichtungen konfrontiert. Durch Kombination mit der Welt der Computerspiele generiert der Roman eine erfrischende Authentizität, die der Gesamtkonstruktion einen feinen Schliff gibt. Schachinger findet den passenden Ton, lässt feinen Humor nicht vermissen und nutzt diesen Mix für feine Gesellschaftsbeobachtung und -reflexion. Die Hauptfigur ist Sympathieträger und nimmt die Leserschaft mit in diese jugendliche und sehr spannende Erfahrungswelt. Ein tolles Buch, nicht mein Favorit, aber ein absoluter Lesetipp.

Werbung aus Liebe zum Buch

Wertung: 🐧🐧🐧🐧1/2🐧

Tonio Schachinger: Echtzeitalter

ISBN: 978-3-498-00317-3

https://www.rowohlt.de/buch/tonio-schachinger-echtzeitalter-9783498003173

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