Gelungenes collagenartiges Gesellschaftsgemälde
Das Leben ist oft ein Spiel in zwei Sätzen: Im ersten schläfert es dich ein und lässt dich glauben, dass du führst, und im zweiten, wenn du entspannt und wehrlos bist, serviert es dir seine Schmetterbälle und macht dich alle.
Despentes, Virginie: Das Leben des Vernon Subutex Teil 1, S.11 Kiepenheuer und Witsch 2017.
Der „weibliche Houellebecq“ so wird Virginie Despentes in Frankreich genannt und wer den ersten Band ihrer Trilogie „Das Leben des Vernon Subutex“ liest, bekommt einen Eindruck, warum man sie in diese Kategorie zählen möchte. Als großer Fan französischer Literatur stand für mich außer Frage, ob ich auch diesen Roman lesen werde. Zu positiv waren die Kritiken, welche in der Trilogie ein passendes gesellschaftliches Sittengemälde sehen. Während ich an dieser Rezension sitze läuft im Hintergrund Nirvana und sorgt für das passende Rezensionsgefühl. Despentes nimmt uns nämlich mit auf eine Tour des sozialen Abstieges, in welcher Musik und auch vor allem Rockmusik keine untergeordnete Rolle spielt. Warum dies so ist, zeigt sich relativ schnell an der Hauptfigur.
Um was geht es?
Vernon Subutex heißt die Hauptfigur und war Besitzer des Plattenladens „Revolver“, bis die technische Entwicklung das Plattengeschäft schwächeln ließ. Nach diesem Verlust beginnt der soziale Abstieg, verbunden mit nicht mehr vorhandenen Einnahmen. Zunächst noch unterstützt vom ehemaligen Musikstar Alex Bleach kann er seine Wohnung vorerst halten, doch nach dessen Tod folgt die Zwangsräumung. Der Roman folgt Vernon nun bei seiner Reise durch verschiedene Wohnungen von Personen aus der Vergangenheit, die ihm kurzzeitig eine Bleibe gewähren. Dabei wird der Abstieg schnell deutlich und auch, dass die Vergangenheit aus Sex, Drugs and Rock’n Roll ihm keine Zukunft gewähren kann. Einzige Chance könnten Videokassetten sein, die Bleach in seiner Wohnung aufgenommen hat und als sein Vermächtnis bezeichnete.
Mein Eindruck vom Buch
Ich liebe Popromane und so kann mich dieser Roman schon durch seine Hauptfigur, den ehemaligen Plattenverkäufer Vernon für sich gewinnen. Allerdings gelingt es Virginie Despentes mich noch auf ganz andere Weise zu begeistern. Collagenartig zeichnet sie ein äußerst genaues gesellschaftliches Bild. Mag manche Figur etwas überzeichnet wirken, so begeht sie doch nie den Fehler, ihre Figuren der Lächerlichkeit preis zu geben. Vernon erkennt ganz langsam über den Handlungsverlauf hinweg, dass er sein Leben in der gewohnten Form nicht mehr zurück erhalten wird und auch das Schwelgen in der Vergangenheit keine Lösung darstellt. Er ist das Bindeglied zwischen all den im Roman auftretenden Figuren. Despentes greift fast alle aktuell auftretenden gesellschaftlichen Bewegungen mit ihrem Figurenensemble auf.
Wir haben ehemalige Groupies, die sich nun nichts sehnlicher wie ein normales Leben wünschen, in dem Wissen, dass sie auch dieses niemals endgültig glücklich werden lassen wird. Vernon geht eine Liebesbeziehung ein, in welcher sich der Wunsch nach einem festen Partner nach gewünschtem Vorbild so entwickelt, dass er fast erdrückend wird. Wir lernen Xavier kennen, einen rassistisch veranlagten Drehbuchautor, dessen Aussagen man auch aus eigenen Erfahrungen von Stammtischen kennt. Zwei ehemalige Pornosternchen leben zusammen. Eine der Beiden möchte den glorreichen Hauch der Vergangenheit wiederbeleben, während ihre Freundin sich entscheidet zum Transmann zu werden und dies als Chance eines Neuanfangs sieht. Mit ihnen in Verbindung wird der Ex-Mann eines anderen Pornostars gesetzt, dessen Frau sich dann mit dem ehemaligen Musikstar Alex Bleach eingelassen hat. Er versucht bestmöglich seine Tochter groß zu ziehen, die sich jedoch über Islamstudien immer weiter von ihm entfernt. Dann gibt es noch Patrice einen Freund von Vernon, der Einblick in sein gescheitertes Leben gibt. Verlassen durch seine Frau, weil er sie geschlagen hat, betrinkt er sich an einem Abend mit Vernon.
Diese Aufzählung mag unübersichtlich wirken und auf einen chaotischen Roman hinweisen, doch genau das Gegenteil ist der Fall. Die collagenartige Zusammenstellung wird so elegant über Vernon und Bleach als Bindeglieder verknüpft, dass man dem Ganzen gerne über 400 Seiten folgt. Stärke des Romans ist dabei, dass er den Figuren den nötigen Raum lässt sich darzustellen und dabei keine Angst vor Tabubrüchen zeigt. Stärkste Szene ist für mich auf jeden Fall, wie Patrice sich seine Gewalt in der Ehe versucht zu erklären und in dieser relational daherkommenden Passage auch tiefen Einblick in seine Gefühlswelt gibt. Ich weiß nicht, wann ich dies in einer solch prägnanten Sprache schon einmal gelesen habe. Ebenso sind die Passagen der beiden Pornosternchen von einer solchen Klarheit, dass man dies nachvollziehen kann, auch wenn diese Milieus doch so weit weg erscheinen.
Den Roman zeichnet aus, dass er sich zwar in bestimmten Milieus bewegt, aber anhand dieser verschiedene gesellschaftliche Diskussionen durchspielt und nie in eine Verklärung kippt. Es wird beschrieben, nicht endgültig erklärt und genau dies liebe ich an guten Romanen. Auch der dargestellte soziale Abstieg nimmt seinen Lauf, ohne dass er zu dramatisch geschildert wird, vielmehr fast logisch erscheint. Es geht Despentes nicht darum, dass ihre Figuren sich auflehnen. Vielmehr zeigt sich, dass ein Abstieg jedem schnell passieren kann, auch wenn man es sich nie hätte vorstellen können.
Mich hat dieser Roman auf jeden Fall sehr fasziniert und ich hatte den ersten Band noch nicht fertiggelesen, als sich schon Band 2 und Band 3 auf den Weg zu mir befanden. Für mich schafft es Despentes schnörkellos Probleme unserer heutigen westlichen Gesellschaften zu schildern, ohne diese endgültig zu werten. Somit kann ich dieses Buch allen empfehlen, die gerne gesellschaftskritische Romane lesen und die sich nicht an etwas schräg wirkenden Milieus stören.
Wertung: 🐧🐧🐧🐧
Werbung aus Liebe zum Buch
Despentes, Virginie:
Das Leben des Vernon Subutex
Kiepenheuer und Witsch Verlag
ISBN: 978-3-462-05207-7
Preis: 11,00€
Das Leben des Vernon Subutex 1 – Virginie Despentes | Kiepenheuer & Witsch (kiwi-verlag.de)