Armut als Einschränkung und ein abwesender Vater – Öziri, Necati: Vatermal

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In der letzten Woche wurde während der Buchmesse der Deutsche Buchpreis vergeben. Seit Jahren lese ich viele Bücher, welche für diesen Preis nominiert sind. Erstmals möchte ich in diesem Jahr alle 20 Titel der Longlist lesen und auf diesem Blog besprechen. Unabhängig davon, welcher Titel schlussendlich durch eine Jury zum besten Roman des Jahres erklärt wird, finden sich auf dieser Liste Bücher, denen ich Aufmerksamkeit bescheren möchte.

Begonnen habe ich meine Besprechungen mit der Shortlist. Ein weiterer Nominierter ist Necati Öziri mit seinem Buch „Vatermal“, erschienen im Claassen Verlag. Über dieses Buch habe ich schon zuvor einige positive Bewertungen gehört, konnte mir aber in der Machart nicht vorstellen, was dieses Buch besonders machen könnte. Nach der Lektüre kann ich dies nachvollziehen und werde dies hoffentlich auch in meiner Rezension aufzeigen.

„Aber dann, Metin, öffne ich die Augen und merke, nichts von alldem ist wirklich. Niemand ist da. So fühlt es sich an, wenn du begreifst, dass deine Jugend vorbei ist und du alleine bist an einem Ort, von dem du früher oder später genauso verschwinden wirst wie alle anderen.“

Öziri, Necati: Vatermal, 2023, Claassen Verlag, S.258.

Necati Öziri erzählt aus der Perspektive von Arda die Geschichte einer migrantischen Jugend mit abwesendem Vater. Die Story ist jedoch mehr als eine Geschichte eines jungen Migranten und betont vor allem die Umstände von Armut. Es ist eine besondere Erzählsituation, denn Arda erzählt seine Geschichte dem abwesenden Vater und dies aus besonderem Grund, denn Arda droht zu sterben. Daraus ergibt sich eine emotional tragische Grundsituation und doch erdrückt dies alles den Roman nicht. Arda erzählt, wie seine Mutter die Erziehung übernimmt oder daran scheitert. Seine Schwester verlässt die Familie ebenfalls und so muss sich Arda alleine durchs Leben kämpfen. Wir erfahren, wie er und seine Freunde mit Alltagsrassismus umgehen müssen, aber auch wie ihnen aufgrund von Herkunft und Armut Zeit geraubt wird, die eigene Entwicklung zu stärken. Necati Öziri wählt dafür einen Ton, der genügend Raum für Sätze lässt, die einem zwischendurch auch ein Lächeln auf die Lippen zaubert.

Mit diesem Roman knüpft Öziri an sein Theaterstück „Get Deutsch or die tryin“, in welchem die Figuren alle schon einmal vorgekommen sind. Teilweise sind Elemente schon im Theater erzählt worden, doch der Roman widmet vor allem Mutter und Tochter mehr Raum und betont somit gegenüber dem Vater die anwesenden Familienmitglieder. Erinnerungen aus dem Leben von Arda, seiner Schwester Aylin und der Mutter verweben sich zu einer Familienidentität. Arda ist somit immer Teil dieser Identität, selbst wenn er sich Teilen verweigern möchte. Die Großeltern sind aufgrund eines Erdbebens nach Deutschland gekommen. Seine Mutter musste Ardas Vater heiraten, obwohl sie sich in einen anderen Mann verliebt hatte. Es ist somit eine Familiengeschichte, die durchgehend von Einschränkungen geprägt ist. Dieser Familie sind die Chancen geraubt und so entwickelt sich für die Mutter ein negativer Strudel. Ardas Vater Metin ist politisch Verfolgter und entscheidet irgendwann als Revolutionär zurück in seine Heimat zu gehen, im Bewusstsein der Gefahr einer Haftstrafe. Das Unverständnis darüber zieht sich durchs Buch, aber vor allem, weil unklar bleibt, ob man dies Metin auch als Heldentat auslegen kann. Arda und seine Freunde stehen auch einem klischeebehafteten Männlichkeitsbild entgegen und dies ist ebenfalls eine tolle Stärke dieses Buches.

„Metin, ich weiß nicht, warum ich es immer anders erzähle, als es geschah. Warum die Sätze sich wieder und wieder eine andere Abzweigung suchen. Vielleicht, weil ich Angst hab, dass meine Familie nach meinem Tod meinen Laptop in die Finger kriegt, das hier lesen und sich dann verraten fühlen könnte? Vielleicht, weil ich diesen Tag selbst lieber anders in Erinnerung hätte?.“

Öziri, Necati: Vatermal, 2023, Claassen Verlag, S.127.

In seiner Sprachästhetik erinnert mich dieses Buch durchaus an einigen Stellen an den von mir verehrten Wolfgang Herrndorf. Diesen zeichnete für mich ebenfalls aus, dass er seinen Figuren den passenden Sprachgebrauch gab und zugleich eine hohe poetische Dichte erzeugen konnte. Die prekären Verhältnisse stehen somit im Gegensatz zu den textlich aufgezeigten sprachlichen Möglichkeiten, und dies ist für mich auf der Darstellungsebene klarer Verweis darauf, dass diese Personen von wirtschaftlichen Bedingungen eingeschränkt werden. Der Bruch zwischen Ardas Schwester und seiner Mutter ist für den Erzähler eine weitere Belastung und zu gerne würde er dies vor seinem möglichen Ableben noch korrigieren. Schließlich bleibt die Familienbande über ihn und für seine Pflege bestehen. Anders als in der Beziehung zum Vater sind hier noch Korrekturen möglich. Dieses Buch eröffnet den Blick auf das sich in unserer Gesellschaft leider wieder verbreitende Problem der Armut und ist dabei ein ehrliches Zeugnis. Es wird nicht überdramatisiert, nichts verharmlost, sondern schonungslos Leben geschildert. Die Emotionalität verschiedener Momente ist im Roman stärker als im Theaterstück. Während letzteres über die starken Dialoge funktioniert, nutzt Öziri im Roman die Möglichkeiten, zu reflektieren und seinen Figuren eine größere Tiefe zu geben. Für mich ist dies gelungen, allerdings ist die Vaterlücke als Vatermal und somit das Leben prägende Erfahrung mit der Leere um das politische Handeln des Vaters etwas zu groß. Hier hätte ich mir die ein oder andere Antwort mehr gewünscht. Der Qualität des Buches schadet dies aber nicht, da im Gegenzug Mutter und Schwester eine tolle Figurentiefe erhalten.

Fazit

Dieser Roman beeindruckt mich in seinem Sprachgebrauch. Öziri schreibt gekonnte Dialoge, gibt seinen Figuren die passende Sprache und verwebt in seinem Text poetische Sprachpassagen, die zugleich hohes Reflexionspotential haben. Der Roman gibt uns einen klaren Eindruck in das Leben einer alleinerziehenden Mutter, die daraus erwachsende Armut und die Belastung, als Migranten Teil der Gesellschaft zu sein. Doch letzteres ist nicht Hauptpunkt des Romans, und dies empfinde ich als Stärke. Mich hat Öziri an vielen Stellen emotional berührt, und das von mir ergänzend gelesene Theaterstück hat mir dann noch weitere gelungene Einblicke gegeben. Ein tolles und berührendes Buch.

Werbung aus Liebe zum Buch

Wertung: 🐧🐧🐧🐧1/2🐧

Necati Öziri: Vatermal

ISBN: 978-3-546-10061-8

https://www.ullstein.de/werke/vatermal/hardcover/9783546100618

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