Am 14. Januar lud das Literaturhaus München zu einem Abend mit dem Titel „Gewalt erzählen“ ein. Gäste waren die Autorinnen Cemile Sahin mit ihrem Buch „Alle Hunde sterben“ und Ronya Othmann mit dem Roman „Die Sommer“. Moderiert wurde der kurzweilige Abend von Doris Akrap, Redakteurin bei der taz. Aufgrund der Pandemie-Einschränkungen wurde aus diesem Abend eine gestreamte Veranstaltung, die technisch toll organisiert war und vor allem auch uns die Möglichkeit bot daran teilzuhaben. Wenn ich von uns spreche, dann meine ich meinen Kollegen Stefan und mich. Im Anschluss an die Veranstaltung haben wir über die Veranstaltung diskutiert.
Sascha:
Als verbindendes Element der beiden Bücher hat die Diskussion an diesem Abend das Motiv der Gewalt betrachtet. Doris Akrap hat dabei ausgemacht, dass die Romane auch die Sprachlosigkeit über Gewalt thematisieren. Ich finde den Gedanken interessant und auch was die beiden Autorinnen dazu gesagt haben. Cemile Sahin hat die Sprachlosigkeit als Phase der Verarbeitung von Gewalt bezeichnet, dann würde sie aber vor dem Erzähldrang des Buches stehen. Ich finde vielmehr den Gedanken interessant, dass beide Autorinnen mit Bildern arbeiten, die uns auch aus den Nachrichten bekannt sind. Es kann demnach sprachlich vielleicht gar nicht mehr berichtet werden, als das was sich aus Nachrichten schon in unseren Gehirnen festgesetzt hat, oder wie siehst Du das?
Stefan:
„Es kann demnach sprachlich vielleicht gar nicht mehr berichtet werden, als das was sich aus Nachrichten schon in unseren Gehirnen festgesetzt hat“
Den Gedanken finde ich interessant, gerade weil sowohl Cemile Sahin als auch Ronya Othmann betonen, dass es keine fiktive Form der Gewalt ist, die da geschildert wird.
Die Ereignisse der Gewalt, die Othmann schildert, seien „Dinge, die da wirklich passiert sind“, sagt sie. Und auch Cemile Sahin sagt, dass sie nicht in dem Sinne recherchiert hat, dass sie sich historisches Material erarbeitet hat, sondern, dass sie Geschichten aufgreift, die „immer schon da“ waren, sie beschreibt wie sie sagt, „gewisse Realitäten“ die in der Türkei existieren. Eine Art „kollektive Erinnerung“, die sie „einfach aufgeschrieben“ habe.
Beide schreiben sich also schon in einen vorhandenen Raum ein, arbeiten zwangsweise (auch eine andere Form von Gewalt, wie mir gerade auffällt) mit bereits existierendem Material. Besonders spannend finde ich das auch deswegen, weil Ronya Othmann ja dann auch explizit anspricht, wie schwierig es war in diesem kulturellen Raum zu schreiben, weil ausgewähltes „inszeniertes Material“, nämlich die Gewaltvideos des IS bereits da gewesen wären. Das wirft ja, denke ich, dann auch immer die Frage auf, wie man sich dazu verhält. Man kann das Material ja schlecht einfach reproduzieren, weil man diesen Leuten dann ja eine Plattform bietet. Der IS benutzt schließlich „die Inszenierung von Gewalt“ als Waffe, wie Othmann sagt. Vielleicht geht es also „nur“ darum, vorhandenes Material zu selektieren und dann als Geschichte zu arrangieren? Bestünde dann die „einzige“ künstlerische Freiheit in der Form des inhaltlichen und sprachlichen Arrangements?
Sascha:
Spannend, das du den Aspekt „Künstlerische Freiheit“ ins Spiel bringst, der ja immer wieder für Debatten sorgt. Hier geht es in keinster Weise um irgendeine politische Richtung, sondern es geht aus meiner Sicht vielmehr um das Verhältnis des Künstlers zu seinem Stoff.
Die beiden Autorinnen denken vielmehr aus Respekt darüber nach, wie man seinen Stoff verfremden darf. Ich finde die Art des Textarrangements bei Cemile Sahin, die durch die filmischen Einleitungen Ästhetik ausstellt, da sehr spannend. Othmann wählt die biographische Darstellung schon durch die Erzählhaltung. Damit machen beide deutlich, dass es ihnen auch um Realitätseffekte geht. Grundsätzlich stehe ich dieser Sehnsucht nach realen Stoffen kritisch gegenüber, aber hier finde ich es einleuchtend, dass die Beiden sich darüber Gedanken machen. Ich habe beim Lesen diese Erzählungen irgendwie realer wahrgenommen, als diese Fernsehbilder aus den Nachrichten. Vielleicht vor allem deshalb, weil ich Emotionen transportiert sehe, die in allgemeinen Nachrichtendarstellungen untergehen.
Aus diesem Grund ist es schon eine Form der Freiheit, die sich auf Inhalt und Sprache konzentriert, aber den Stoffaspekt ausblenden muss. Ich möchte jetzt nicht schreiben, dass es eine moralische Frage ist, bei all dem Leid, keine Verfremdung dieser Geschehnisse zu machen, aber es ist doch die Frage, ob nicht durch diese Texte der Krieg überhaupt in mein Bewusstsein eindringt. Könnte man die Stärke von Literatur dann darin sehen, dass gute sprachliche Gestaltung auch gegen meine Abstumpfung ankämpft. Gelingt den Texten vielleicht auf diese Weise mich mehr ins Reale zu verlagern, obwohl sie sich bei Sprache und Inhalt künstlerische Freiheit nehmen, anders als objektive Nachrichten, wo Ästhetik auch eine Rolle spielt, aber ja nicht Kerngedanke sein soll?
Stefan:
Genau, es geht um das Verhältnis der Autorinnen zu ihrem Stoff. Ich denke auch, dass es bei diesem Thema gar nicht ohne „reale“ Vorlage geht, das sagt Othmann ja auch. Die Stärke von Literatur besteht auf jeden Fall darin, dass durch ihre individuelle Form beim Leser oder der Leserin ein Perspektivwechsel entstehen kann und Literatur dadurch auf jeden Fall gegen Abstumpfung „ankämpfen“ kann. Deswegen würde ich bei Sahin und Othmann vielleicht auch nicht davon sprechen, dass man den Stoffaspekt komplett ausblenden muss? Im Sinne von einer autobiographischen Darstellung sicherlich schon, aber ich denke, dass der Stoff allein dadurch, dass sie über die Form seines Arrangements nachdenken mussten, immer irgendwie „da“ war. Die Frage nach dem Realen ist interessant, wenn man diesen Perspektivwechsel, der vielleicht durch Literatur angeregt wurde, einnimmt, dann gibt es sicherlich eine andere Wahrnehmung dieses Themas, die vielleicht auch „wacher“ oder „intensiver“ ist, als es bei den Nachrichten der Fall ist.
Kann also Literatur ihre politische Ausdruckskraft auch aus Darstellungen von Konflikten schöpfen? Mit diesen Diskussionsansätzen werden wir uns sicherlich weiter beschäftigen, denn wie sehr Literatur Realität transportieren kann, ist eine der großen Fragen der Gegenwartslliteratur.