Gianna Molinari widmet sich in ihrem 2023 bei Aufbau erschienenen Roman „Hinter der Hecke die Welt“ den Themen des Wachstums und Verschwindens in verschiedenen Facetten, aber durchaus mit dominierendem Bezug zu all den Transformationsentwicklungen, wie sie uns aktuell vor Herausforderungen stellen. Ich habe bereits das letzte Buch der Autorin „Hier ist noch alles möglich“ gelesen und war von ihrer unkonventionellen Erzählweise beeindruckt. Dies setzt sich auch mit dem neuen Roman fort.
„Pinas Vater war der Meinung, dass hinter der Hecke das Dorf liege und dieses darum besser geschützt sei als andere Orte. Pina war der Meinung, dass hinter der Hecke die Welt liege.“
Molinari, Gianna: Hinter der Hecke die Welt, 2023, Aufbau Verlag, S.28.
Wir haben in diesem Buch zwei Erzählebenen; zum einen erfahren wir von der Meeresforscherin Dora, wie sich die klimatischen Veränderungen in der Arktis auswirken. Zum anderen erfahren wir von der von ihr im Dorf zurückgelassenen Tochter Pina, wie dieses Dorf zu verschwinden droht. Gekonnt verknüpft Molinari über diese Erzählebenen Transformations-Herausforderungen und ist damit ein hochaktueller Gegenwartsroman. Das Dorf hat neben Pina mit Lobo nur noch ein weiteres Kind. Schon allein diese Tatsache verdeutlicht, dass dieses Dorf vom Verschwinden bedroht ist. Dies zeigt sich noch an einer wuchernden Hecke, welche die Dorfgemeinschaft umgibt. Diese Hecke ist mit ihrem Wachstum zugleich bedrohend, als auch hoffnungsstiftend für Veränderungen. Im Gegensatz zu ihr wachsen die beiden Kinder nämlich nicht mehr. In diesen Motiven des Vergänglichen, des Verschwindens verliert sich Molinari allerdings nicht mit ihrem Text. Die Expedition in der Arktis versucht alles zu messen und an diesen Ergebnissen den Bedrohungsgehalt zu messen. Das Dorf orientiert sich dabei am Heckenwachstum, wobei die beiden Kinder äußerst sensibel die Veränderungen an ihrer Umwelt wahrnehmen. Sie scheinen zudem das Gespür zu haben, dass diese Veränderungen ihren Ausgangspunkt im menschlichen Handeln haben. Gianna Molinari konzentriert sich nicht auf einen zusammenhängenden Plot; die Verbindungen der von ihr geschilderten Szenerien lässt sich über das verbindende Thema Vergänglichkeit und Klimawandel herstellen. Damit fordert sie ihre Leserschaft heraus. Man muss sich auf dieses Buch mit seinem feinen poetischen Ton einlassen und die Fokussierung auf die beiden Kinder muss man ebenfalls als die Hoffnung auf eine bessere Zukunft sehen. Aus meiner Sicht betont die wachsende Hecke mehrere Aspekte der heutigen Transformationsherausforderungen. Mit dem Dorf als Handlungsort wird der Blick auf eine kleine und nicht städtische Gemeinschaft geworfen, womit der Roman die Diskrepanz zwischen Stadt und Land bei Transformationsanforderungen beschreibt. Die umliegende wachsende Hecke ist zugleich ein Abgrenzungssymbol und lässt die in ihr lebenden Menschen in ihrem kleinen Kosmos hängen. All dies sind auch Erscheinungen, die wir aus gesellschaftlichen Debatten kennen. Immer wieder verknüpft der Text das Geschilderte mit Berichten, die verdeutlichen, dass der menschliche Einfluss auf die Natur entscheidenden Charakter hat. Zugleich weiß dieser Text, dass jedweder Wandel auch immer das Vergängliche in sich tragen muss. Molinari nutzt diese Elemente jedoch nicht, um Konfliktpotenzial in ihrem Roman heraufzubeschwören, sondern betont, dass dies das Setting ist. Der zweite Handlungsort ist die Arktis und dieser Ort ist mit den schmelzenden Gletschern das bekannteste Symbol für den Klimawandel. Außerdem betont dieser Handlungsstrang die Wissenschaft, die in vielen gesellschaftlichen Diskussionen nicht als erklärend, sondern als Gegner wahrgenommen wird. All dies muss ich mitdenken, wenn ich diesen Roman lese, ohne dass diese Darstellungen im Roman passieren. Gianna Molinari gelingt es somit neben den sprachlichen Inhalten mit ihrem Setting weitere Aspekte zu transportieren und dies ist eine tolle Romanleistung. Entscheidend für den Roman ist es aus meiner Sicht, dass er mit seinen ausgewählten Szenen verschiedene Aspekte der aktuell größten gesellschaftlichen Herausforderungen aufzeigt, sich aber nicht mit fiktional erzählten Lösungen erhebt.
Fazit
Der Roman konnte mich, ähnlich dem letzten Buch von Molinari, trotz seines experimentellen Umgangs mit der Handlung überzeugen. Ich finde die Ideen, die hier miteinander verknüpft werden, äußerst bemerkenswert. Wirkt der Text im ersten Kontakt abstrakt, setzt er beim Lesen ein Kombinieren in Gang, welches den Weg zu den literarischen Stärken weist. Die hier aufgezeigten Gegensätze von Wandel und Vergänglichkeit machen das Ausmaß der Herausforderung „Kampf gegen den Klimawandel“ deutlich. Molinari hat einen Text geschrieben, der davon lebt, dass man sich mit ihm auseinandersetzt und dafür habe ich ihn äußerst gerne gelesen.
Autor:Inneninformation
Gianna Molinari (geb. 1988) lebt in Zürich. Sie studierte Literarisches Scheiben am Schweizerischen Literaturinstitut und ebenso Neuere Deutsche Literatur. Mit ihrem Debütroman „Hier ist noch alles möglich“ war sie für den Deutschen und den Schweizer Buchpreis nominiert, erhielt verschiedene Preise, u.a. für einen Auszug daraus den 3-sat Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2017.
Werbung aus Liebe zum Buch
Wertung: 🐧🐧🐧🐧
Titel: Hinter der Hecke die Welt
ISBN: 978-3-351-04173-1
https://www.aufbau-verlage.de/aufbau/hinter-der-hecke-die-welt/978-3-351-04173-1