Lehner, Angela: Vater unser
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Man hat mir die Hände auf dem Rücken verbunden.
Lehner, Angela: Vater unser, S.11, Hanser Berlin 2019.
Wie zum Jahresstart erwähnt blogge ich nur, wenn genügend Zeit vorhanden ist und so hatte in den vergangenen Tagen das Studium Vorrang. Ich habe aber durchaus gelesen und somit gibt es jetzt auch wieder etwas zu berichten.
Wer mich in meinem Bücherzimmer besucht, der wird förmlich durch die Masse erst einmal erschlagen. Meist lautet die erste Frage: „Hast Du die eigentlich alle gelesen?“ und ich muss darauf antworten, dass der größte Teil leider ungelesene Bücher sind. Dies ergibt sich weil es einfach so viele tolle Bücher gibt und meine Lesezeit dabei nie mithalten kann. Ich bekomme Bücher geschenkt, erhalte Leseexemplare oder sehe beim Büchershoppen neben den von mir gewünschten Neulingen das ein oder andere Schnäppchen und deshalb ist mein Stapel ungelesener Bücher längst eine Regalwand. Aus diesem Grund habe ich mir für dieses Jahr vorgenommen, dass ich etwas dafür tue, die Anzahl ungelesener Bücher zu reduzieren. Somit werden in diesem Jahr in unregelmäßigen Abständen Bücher aus meinem Altbestand den Blog begleiten. Bei der Auswahl können auch Theaterinszenierungen helfen und dies ist bei meinem ersten Griff der Fall. Das Staatstheater Mainz hat das Stück „Vater unser“ nach einem Roman von Angela Lehner im Programm und bevor ich diesem Stück einen Besuch abstatte, konnte ich den Roman aus meinem Regal greifen und lesen.
Der Vater als Täter in Imagination und Realität
In diesem Roman erzählt uns die Ich-Erzählerin Eva von ihrer Familie und von ihrer Behandlung in der Psychiatrie. Angela Lehners Buch lebt davon, dass uns in dieser Erzählstruktur nie ganz klar werden kann, ob diese Geschichte verlässlich erzählt wird. Der Text betont dies, in dem in ihm immer wieder zu lesen ist, wie gern unsere Erzählerin lügt. Begonnen wird die Erzählung damit, dass Eva durch die Polizei in eine Psychiatrie gebracht wird. Als einer der ersten Gründe wird genannt, dass sie behauptet ihre gesamte Kindergartengruppe umgebracht zu haben. Schnell wird einem bei diesem Text klar, dass man nur schwer erkennt was Wahrheit oder Lüge ist. Ebenfalls wird die Frage verhandelt, was als normal zu verstehen ist und wann man als zu behandeln gilt.
In der Psychiatrie trifft sie auf den wegen Anorexie dort ebenfalls weilenden Bruder Bernhard. Wir erleben wie Eva Therapiestunden mit einem Doktor Korb abhält, es aber auch zu Konfrontationen mit ihrer Mutter und dem Bruder kommt. Zumindest müssen wir Eva glauben, dass all dies so geschieht, denn andere Informationen gibt es nicht. Zudem ist nie erkennbar, ob hier chronologisch erzählt wird. Zu viele Rückblenden und die aufscheinende Unzuverlässigkeit des Erzählten stellen die Chronologie der Abläufe infrage. In den Rückblenden geht es um das Familienleben, in welchem dem Vater eine Täterrolle zugeschrieben wird. Es wird erzählt, dass er die Familie verlassen habe, um eine neue zu gründen. An einer Stelle fällt sogar das Wort Missbrauch, nur um den möglichen sexuellen Missbrauch im Anschluss wieder zu dekonstruieren. Wir wissen nicht, was von diesem Erzählten nur Imagination oder Lüge von Eva ist oder was wirklich der Wahrheit entsprechen kann. Daraus zieht der Roman allerdings seine Spannung, die er gegen Ende hin nochmals gezielt steigert. Die Täterrolle des Vaters führt dazu, dass Eva gemeinsam mit ihrem Bruder aus der Anstalt flüchten möchte und den Vater umbringen will. Jedoch steht der ironische und freche Tonfall des Romans dieser hasserfüllten Gewaltidee diametral entgegen.
Ein gut konstruiertes ästhetisches Spiel
Insgesamt hat dieser Roman einen wunderbaren Sprachton. An passenden Stellen dringt der österreichische Dialekt ein. Ironie, eine rotzfreche Art und Schlagfertigkeit zeichnen den Text aus und lassen eine markante Erzählstimme entstehen. Ich habe beim Lesen sofort meine Version von Eva vor Augen und diese wunderbare Sprache trägt den Text über all seine Passagen hinweg. Der Fokus auf den Vater wird in eine Religionsmetaphorik übertragen, die damit auch auf die Rolle des Mannes anhand der kirchlichen Tradition verweist. Der Roman ist in die Dreifaltigkeit aus „Vater“, „Sohn“ und „Heiliger Geist“ gegliedert. Mit diesem Aufbau setzt die Autorin in mir bei jedem weiteren Nachdenken über das Buch neue Assoziationen frei und steigert die ästhetische Kraft des Werkes. Der Roman ist für mich eine Feier der Fiktion und damit auch ein Infragestellen des Glaubens als Grundlage von Wahrheit. Vielmehr drückt sich in diesem Text aus, dass wir alle uns eine „für andere“ sichtbare Wahrheit schaffen und dafür viel Kraft aufwenden. Mit dem Kindern näher gebrachten Verbot des Nichtlügens wird zudem erneut eine Parallele zur Religion gezogen, die aber gleichermaßen darauf beruht an eine Fiktion zu glauben. Mich begeistert diese ästhetische Spiel um Glaubwürdigkeit. Gleichermaßen beeindruckt der Text mit der psychologischen Figurenauseinandersetzung. Die erlebte Gewalt drückt sich in einem ironisch überzogenen Wahn aus. Dieser wirft die Frage auf, ob man deshalb gleich als gesellschaftspsychologisch „nicht mehr normal“ und stationär zu therapieren gelten muss. Dies wird in Bezug zu einem Narzissmus gesetzt, den man als umgreifend in der heutigen Gesellschaft bezeichnen kann. Eva ist eine Figur, die ihre eigene Opferrolle zwar immer wieder betont, aber sich nicht tiefer damit auseinandersetzt, sondern sie dient ihr vor allem als Begründung für ihr eigenes narzisstisch anmutendes Verhalten. Trotzdem schließt man sie mit ihrer rotzfrechen Art ins Herz. Lehner durchwandert mit dem Text österreichische Litertaturtraditionen mit Anspielungen unter anderem auf Thomas Bernhard und präsentiert als Kernbotschaft, dass Fiktionen durchaus prägend für unsere Gesellschaft sind. Sie können aber auch dabei helfen sich selbst zu greifen.
Fazit
Dieser Roman ist ein sprachliches Feuerwerk des sprechenden Erzählens. Sofort habe ich einen Tonfall der erzählenden Eva im Kopf und bin damit auch emotional an den Text gebunden. Das Buch feiert die Ironie, erschüttert gleichzeitig mit den familiären Rückblenden und damit, dass die Glaubwürdigkeit Basis einer therapeutischen Behandlung sein muss. Ich schließe die Hauptfigur in mein Herz und nehme dafür getrost in Kauf, nicht zu wissen, wie verlässlich sie als Erzählerin ist. Zum Ende hin nimmt der Text, die in ihm angelegte Spannung nochmals auf und steigert sie konsequent, ohne dass Textprinzip am Ende mit einer klaren Botschaft zu unterlaufen. Mir hat der Roman gut gefallen und ich freue mich auf die szenische Umsetzung am Staatstheater in Mainz.
Werbung aus Liebe zum Buch
Wertung: 🐧🐧🐧🐧1/2🐧
Angela Lehner: Vater unser
ISBN: 978-3-446-26259-1
https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/vater-unser/978-3-446-26259-1/